Der Fachkräftemangel stellt die Wirtschaft Baden-Württembergs langfristig vor Herausforderungen. So soll laut dem Fachkräftemonitor des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags die Zahl der Fachkräfte bis 2035 um etwa 30 Prozent abnehmen und über 860.000 gut ausgebildetes Personal fehlen. Jedes dritte südwestdeutsche Unternehmen stuft den Engpass an qualifizierten Mitarbeitenden bereits als Geschäftsrisiko ein. Der demographische Wandel gilt als Hauptursache für den Fachkräftemangel: Eine immer älter werdende Bevölkerung trifft auf weniger junge Talente. Um gegenzusteuern, suchen Firmen auch gezielt nach qualifizierten Mitarbeitenden im Ausland. Indien gilt dabei als besonders vielversprechend und bietet für die hiesige Wirtschaft viel Potenzial. Das Auslandsbüro in Maharashtra unterstützt seit 2024 durch ein Service Desk Firmen aus dem deutschen Südwesten bei der Suche nach passenden Fachkräften. Wir haben mit Ashish Pandit vom Auslandsbüro über das Potenzial und die Herausforderungen der Fachkräftegewinnung im Land sowie Unterstützungsmöglichkeiten für baden-württembergische Unternehmen gesprochen.
Welches Potenzial bietet Indien bei der Fachkräfterekrutierung für südwestdeutsche Unternehmen?
Ashish Pandit: Indien ist ein junges Land mit mehr als 1,4 Milliarden Einwohnern, deren durchschnittliches Alter bei unter 30 Jahren liegt. Für deren qualifizierte Ausbildung gibt es sehr viele Ressourcen, wozu technische Schulen, private und staatliche industrielle Ausbildungsinstitute (ITIs), polytechnische und traditionelle Universitäten gehören. Mittlerweile gibt es in Indien sogar Fachhochschulen. Jedes Jahr treten zwölf Millionen Menschen in Indiens Arbeitsmarkt ein. Laut Prognosen soll Indien bis zum Jahr 2027 die größte Erwerbsbevölkerung der Welt haben.
Schon immer hatten Inderinnen und Inder den Wunsch, aus beruflichen Gründen verschiedene Regionen der Welt zu erkunden und dort zu arbeiten. Während Deutschland ein relativ neues Ziel ist, haben sich viele Inderinnen und Inder bereits seit Jahrzehnten in den USA, dem Vereinigten Königreich, dem Nahen Osten, in Südostasien und anderen Teilen der Welt niedergelassen.
Für welche Berufsgruppen stehen die Chancen bei der Fachkräftegewinnung in Indien besonders gut?
In den vergangenen 30 Jahren haben sich Inderinnen und Inder weltweit einen Namen im hochqualifizierten Informationstechnologie-Sektor gemacht, vor allem in Europa und den USA. Traditionellerweise arbeitete die Mehrheit der indischen Fachkräfte im Ausland in den vergangenen sieben Jahrzehnten in den Bereichen Bauwesen, Infrastruktur, Ingenieurwesen, Automobil, Mechatronik, Gastgewerbe und Pflege. Hochqualifizierte Mitarbeitende aus Indien sind weltweit aber auch in fast jedem kritischen Industriezweig wie z.B. Nanotechnologie, Robotik, Sondermetalle sowie der dazugehörigen Forschung und Entwicklung tätig. Außerdem sind Auszubildende eine der wichtigsten Gruppen, die für internationale Märkte gewonnen werden können.
Auch andere Länder sind an indischen Fachkräften interessiert. Wie werden Deutschland und im Besonderen Baden-Württemberg im Vergleich zu diesen als Arbeitsmarkt in Indien wahrgenommen?
Länder und Regionen wie die USA, das Vereinigte Königreich, Kanada, der Nahe Osten und Südostasien wurden immer schon als Ziele von indischen Fachkräften bevorzugt. Einer der Schlüsselfaktoren dafür ist, dass dort Englisch oder eine der lokalen indischen Sprachen gesprochen wird, insbesondere im Nahen Osten.
Deutschland ist zwar ein relativ neuer Player in dem Bereich und der Spracherwerb stellt durchaus eine Herausforderung dar, Deutschland – und insbesondere Baden-Württemberg sind grundsätzlich aber ein sehr attraktiver Arbeitsmarkt, sodass Inderinnen und Inder zunehmend dieses Potenzial erkennen. Das sehen wir u.a. daran, dass das Interesse an Deutsch als Fremdsprache stetig steigt.
Welche Herausforderungen erwarten baden-württembergische Unternehmen bei der Gewinnung und anschließenden Zusammenarbeit mit indischen Fachkräften?
Die größte Herausforderung ist die deutsche Sprache. Es dauert acht bis zwölf Monate, bis man das A2- oder B1-Niveau erreicht, das für ein Visum vorausgesetzt wird. Inderinnen und Inder brauchen Zeit, Geld und den Willen, um die benötigten Deutschkenntnisse zu erlangen. Dem Problem könnte man aber durch Sprachkurse an Hochschulen, vor allem zu Beginn des Studiums, begegnen. Eine weitere Hürde sind die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Indien, die z.B. die Essgewohnheiten und soziale Faktoren betreffen. Inderinnen und Inder sehr gesellig, für sie spielen Familie und Freunde eine große Rolle beim Thema Auswanderung. So machen sie sich vor allem um ihre älter werdenden Eltern, Geschwister und Kinder Gedanken. An das neue Umfeld müssen sich indische Fachkräfte gewöhnen. Dies gilt aber genauso für das Ankommen und die Integration in anderen Ländern und Regionen.
Mittlerweile unterstützen vermehrt Welcome Center in Baden-Württemberg Talente aus Indien bei diesen Aspekten und arbeiten mit potenziellen Arbeitgebern zusammen. Sie unterstützen indische Fachkräfte auch bei der Wohnungssuche. Für südwestdeutsche Firmen lohnt es sich, indische Mitarbeitende zu beschäftigen. Das bietet ihnen die Möglichkeit, einen internationalen Mitarbeiterpool aufzubauen und die internationale Kompetenz für Marktwachstum zu nutzen.
Im vergangenen Jahr wurde unter dem Dach des Auslandsbüros in Maharashtra ein Service Desk für die Fachkräftegewinnung eingerichtet. Wie unterstützt dieses südwestdeutsche Firmen bei der Rekrutierung geeigneter Fachkräfte? Gibt es bereits konkrete Erfolge, die Sie damit erzielen konnten?
Das Ziel des Service Desk ist es, baden-württembergische Unternehmen bei der Suche nach den richtigen Institutionen wie Personalvermittlungsagenturen und Ausbildungsinstituten für die Gewinnung qualifizierter Fachkräfte und Auszubildender zu helfen. Das Service Desk hat einen Überblick über die passenden Stakeholder in Maharashtra und in Baden-Württemberg. Dadurch kann es z.B. potenzielle Arbeitgeber aus dem deutschen Südwesten bei Reisen nach Indien für Gespräche mit lokalen Institutionen vernetzen, die zu ihren Anforderungen passen. Bisher gab es bereits Erfolge bei der Fachkräftegewinnung aus Indien für das Gastgewerbe und die Pflege sowie bei der Gewinnung von Auszubildenden im Handwerk.
Das Service Desk arbeitet eng mit den Welcome Centern in Baden-Württemberg zusammen, um Informationen zu Einstellungsprozessen in Maharashtra und anderen Regionen Indiens zu teilen. Dafür organisiert es Veranstaltungen wie Web-Seminare. Das Service Desk tauscht regelmäßig Informationen zu Qualifikationen, Studien- und Lehrplänen, Anerkennungsmöglichkeiten sowie weiteren Einstellungsaspekten aus. Es organisiert zudem Expertenbesuche aus Baden-Württemberg in die Region.
Der Fokus des Service Desk liegt somit darauf, Akteurinnen und Akteure aus Baden-Württemberg bei der Etablierung langfristiger und nachhaltiger Kooperationen im Bereich der Fachkräftegewinnung in vielfältiger Weise zu unterstützen .
→ Zum Auslandsbüro in Indien (Maharashtra)
Bild: Fizkes